Naja, dann wird's langsam insgesamt zu modern. Als Jan Spitzer geboren wurde, war Lionel Atwill bereits ein Jahr tot. Ansonsten erscheint mir das etwas zu trashig. Atwill braucht eine Stimme, die letzten Endes schon nach Gentleman alter Schule klingt und das ist Spitzer für mich, sorry, nicht, auch wenn er für Alan Arkin z.B. sehr gut funktioniert. Spitzer klingt zu rauh und nicht nobel genug, als dass das funktionieren würde. Ich würde da, wenn schon modern und aus dem Altersbereich, eher meine Allzweckwaffe Bernd Rumpf vorschlagen, den ich mir in "House of Wax" z.B. wesentlich besser als Joachim Kerzel vorstellen kann, der es dann geworden ist. Rumpf kann sowohl dämonisch, als auch elegant, sowohl hart, als auch soft klingen, ohne sich großartig verstellen zu müssen und etwas Ungewöhnliches, Distinguiertes hat die Stimme obendrein.
Zitat M.E. ist Lionel Atwill aus heutiger Sicht einer der unterschätztesten Schauspieler des alten Hollywood.
Nur nahezu vergessen, nie wirklich unterschätzt. Kenneth Anger nennt in Hollywood Babylon Atwills Gesicht ein "Gottesgeschenk für einen Schauspieler" und schreibt über Atwill nach dem Erfolg in "House of Wax" (1933) "Mittlerweile war Atwill als Hollywoods bester und typischster "verrückter Doktor" festgelegt." (Hollywood Babylon, Bd. 2, S. 89) Dass er vorher bereits Meriten als wandelbarer Mime für Shakespeare, Ibsen und Shaw brillierte, erfährt der Leser ebenfalls. Besonders nett zu lesen ist eine selbstaussage Atwills über sein Gesicht (S. 87):
"Sehen Sie - eine Seite meines Gesichtes ist nett und freundlich, zu nichts anderem imstande als meine Mitmenschen zu lieben. Die andere Seite, das andere Profil, ist grausam, blutgierig und böse, zu nichts anderem fähig als zu Lüsten und dunklen Leidenschaften. Es kommt nur darauf an, welche Seite meines Gesichtes Ihnen zugekehrt ist - oder der Kamera. Es kommt allein darauf an, welche Seite dem Mond bei Ebbe ins Gesicht sieht."
Rainer Dicks 1996 im Tilsner Verlag erschienenes Buch "Stars des Horrofilms" enthält umfassende Analysen der Karriere, des Rollentyps und der Spielweise berühmter Namen aus der "klassischen" Phase dieses Genres in Form von Essays. Besonders interessant fand ich den über Lionel Atwill ("Der distinguierte Dämon", S. 42-50). Atwills Aussage über seine beiden Gesichtshälften wird gegen Ende zitiert. Zu Beginn heißt es, Atwill sei die "Idealverkörperung" des "absolut integre(n), über jeden moralischen Zweifel erhabenen Ehrenmann(es)" gewesen, "hinter dessen bürgerlich-vertrauensvoller Fassade ein Ungeheuer von abgrundtiefer Boshaftigkeit schlummert". Seine wahnsinnigen Wissenschaftler seien keine "Karikatur(en)", sondern "ehrenwerte, gebildete und ungewöhnlich edle Nobelmänner", mit einer "sehr nüchterne(n) Rationalität, Pragmatismus und Lebenstauglichkeit", "kultiviert, weltmännisch, zuvorkommend und von erlesenen Manieren - kurz gesagt: Gentlemen" gewesen. "Und doch lauerte hinter dem gepflegten Äußeren dieses Charakterkopfes die Fratze des Wahnsinns, widerwärtig und pervers, verbrecherisch und abstoßend, grauenerregend und skrupellos." Atwills "zurückgenommenes, behutsames, ja leises Spiel" habe "in diametralem Kontrast (...) zur Vordergründigkeit seiner häufig sehr plakativ angelegten Rollen" gestanden. Während Vincent Price, sein "Nachfolger" vom Rollentyp her seine Figuren "durch bewußte Übertreibung (...) stets ironisiert" habe, setzte Atwill ganz auf "Nuancierung, Facettenreichtum und eine Zurückhaltung, sie seinem eigenen Wesen entsprach". Der Essay (der Atwills gesamte Schauspielkarriere umfasst, aber einige Horror-Rollen dabei genauer analysiert), ist hervorragend geschrieben und insgesamt sehr lesenswert. Aber das gilt eigentlich auch für viele andere Aufsätze in diesem Buch, das leider nur noch antiquarisch oder per Fernleihe greifbar ist. Jedem Interessierten kann ich es nur empfehlen!