Wie man aus dem Intro von "Berliner Ballade" ersehen kann, ging man 1948 offenbar allen Ernstes davon aus, dass Harry Giese auch noch im Jahr 2048 als Nachrichtensprecher für die "Telekinobesitzer" fungieren würde...
Viele, die Harry Giese 1956 im Trailer zum spannenden WWII-Spionage-Film "Spion für Deutschland" im Kino hörten, dürften sich erst mal an die Kriegswochenschau erinnert gefühlt haben...
Als Constantin Charlie Chaplins Stummfilm "Lichter der Großstadt" (1928) 1951 in Deutschland neu herausbrachte, durfte ausgerechnet Harry Giese den Trailer sprechen. Hatte er 10 Jahre früher in "Der ewige Jude" noch gegen "Schaplin" gehetzt, pries er ihn nun als den "großen Zauberer und Botschafter des Humors". Wenn man zu Beginn Chaplins Konterfei im Standbild sieht und dazu Gieses Stimme hört "Da ist er wieder..." erwartet man erstmal unweigerlich Böses...
Auch wenn die großen Synchronrollen ab Anfang der 50er ausblieben, so wurde Harry Giese ja ganz offensichtlich immer wieder gerne als Trailersprecher eingesetzt- ähnlich wie später Nottke oder Heinz Petruo.
Für immer unklar wird natürlich auch bleiben, ob Giese wirklich an die Lügen geglaubt hat, die er als Sprecher vom "Ewigen Juden", der "Deutschen Wochenschau" und anderen NS-Dokus verkündet hat.
Zitat von kinofilmfan im Beitrag #1Im Gegensatz zu den meisten Synchronkollegen ist Giese niemals auf der Leinwand zu sehen gewesen.
Das dachte ich bis vor kurzem auch. Doch nun hat sich herausgestellt, dass es doch einen kleinen Filmauftritt von Harry Giese gibt. In Victor Vicas' Zuckmayer-Verfilmung "Herr über Leben und Tod" (1954) mit Maria Schell, Ernst Wilhelm Borchert und Ivan Desny hatte Harry Giese seine - soweit bis heute bekannt - einzige kleine Filmrolle. In allen offiziellen Stabangaben wird gelistet "Professor Richert - Heinz Giese". Diese Angaben sind falsch. Der Professor heißt im Film "Reichert" und wird von Harry Giese gespielt. Auch wird "Harry Giese" im Filmvorspann direkt genannt. Gieses Auftritt dauert allerdings kaum länger als 30 Sekunden und zwei Sätze.
Ein sehr interessanter Thread zu einem Sprecher dessen Stimme ich immer mit der NS-Zeit verbinde, aber wo ich lange Zeit nicht den Namen dahinter kannte. Nun hat sich für mich das Rätsel geklärt und ich finde die Biographie von Giese recht interessant. Das er in der Nachkriegszeit nicht mehr so gefragt war als Synchronsprecher könnte darauf hindeuten, dass er bei den Leuten vom Studio wohl nicht so richtig auf dem Schirm war und irgendwie "vergessen" wurde, weil er keinen besonderen Eindruck hinterlassen hatte.
Zitat von kinofilmfan im Beitrag #35Für immer unklar wird natürlich auch bleiben, ob Giese wirklich an die Lügen geglaubt hat, die er als Sprecher vom "Ewigen Juden", der "Deutschen Wochenschau" und anderen NS-Dokus verkündet hat.
Als klassischer Mitläufer kann ich mir denken, dass Giese nie wirklich darüber nachgedacht hat. Sicherlich hat er einfach nur seinen Job gemacht und den Text runter gesprochen wie man es von ihm verlangt hat. Nicht mehr und nicht weniger. Er sah sich nur als Überbringer der Botschaft. Für die Botschaft an sich und deren Inhalt ist er nicht verantwortlich. So sehe ich das. Auch zur Nachkriegszeit dürfte er darüber nicht weiter nachgedacht haben. Wer kennt denn nicht diese Geschichten über die Großeltern, die meinten, dass sie von allem nichts gewusst haben wollten oder einfach nur bleiernes Schweigen herrschte, wenn man mal nachfragte. Wohlgemerkt auch nur eine Spekulation meinerseits, aber sicherlich hätte Giese auf entsprechende Nachfrage auch nur gesagt, dass er sich nicht sicher gewesen wäre und es seine Arbeit war den Text vorzulesen, der ihm vorgelegt wurde. Womöglich hätte er eher ausweichend geantwortet, weil ihm dieses Thema unangenehm war.
Harry Giese hat anfang der 50er Jahre sowohl bei DEFA -Synchron als auch bei Westberliner Synchronfirmen dt. Bücher geschrieben und Regie geführt. Dann war ab einschl. 1953 im Osten Schluß, kann das hier schon gesagte anhand der Film- programme bestätigen. Hab ungefähr 1992 mit seiner Witwe telefoniert, sie war sehr nett und auskunftsbereit. Ihr Mann war für die Sprecher- tätigkeit in der dt. Wochenschau zwangsverpflichtet worden. Bei den "staatspolitisch wertvollen" "Dok."-Filmen konnte er nicht nein sagen, nicht jeder hatte/hat den Mut, bei Weigerung einer sehr ungewissen Zukunft entgegenzusehen.....hat sie mir gesagt. Frau Giese bestätigte mir auch, daß ihr Mann nicht in der Partei war; ist hier auch schon gesagt worden. Das war sein Glück. Ob er sich schämte, ob er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er nicht den Mut zum "Nein"-Sagen in der fraglichen "Angelegenheit"hatte, ob er das von sich gewiesen hat (Stichwort: zwangsverpflichtet), ich kann mich heute ärgern, das am Telefon nicht gefragt zu haben. Man muß oder besser kann das vielleicht aus der Situation heraus verstehen: ich habe diese ganz vielen Telefonate mit Westberliner Künstlern von Berlin aus geführt, für damals 30 Pfennig. Von meinem Wohnort wäre es sehr teuer geworden. So hatte ich, wenn ich in Berlin war, ein volles Programm und nicht immer alles Wissenswerte ausschöpfen können. Gruß.hans.
Danke für die sehr interessanten Infos. Ich kann Harry Giese schon verstehen. Nur wenige haben den Mut gegen das System zu rebellieren. Wenn dann waren die entsprechenden Taten eher unauffälliger Natur, wie z.B. Juden zu Hause zu verstecken, was damals auch schon sehr riskant und gefährlich war. Letztendlich will man auch nur irgendwie da durch kommen und ein mehr oder weniger ungestörtes Leben führen. Bei mir ist es nicht anders und wenn ich ehrlich bin hätte ich zu der Zeit auch nicht viel anders gehandelt als Giese.
Ich hab noch vergessen zu sagen, daß seine Frau erwähnte, daß Harry Giese seine "Unschuld" gleich nach dem Krieg beweisen konnte, so daß die sowjetischen Kulturoffiziere, die -das ist überliefert- kulanter waren in den allerersten Jahren als die Kulturoffiziere der 3 anderen Besatzungsmächte, dann grünes Licht für eine Tätigkeit als Synchron- sprecher gaben. Dennoch, ich weiß nicht, ob ich so froh darüber gewesen wäre, die Stimme der Wochenschau so schnell wieder in einem sowjetischen Film z.b. als fröhlichen Traktoristen vom Kolchos "Völkerfreundschaft" zu hören..... Wir werden es nie mehr erfahren, was damals, 1945/46 ganz konkret dieserhalb besprochen wurde.
Übrigens, da der Name WALTER TAPPE hier fiel: der war in einigen "AUGENZEUGEN"-Wochenschauen der DEFA gleich nach dem Krieg der kommentarsprecher. Aber seine Stimme war ja längst nicht so bekannt. Etwas später, das sagen die Filmprogramme, hat er auch bei der DEFA synchronisiert und wenige Male dt.Bücher geschrieben und dt.Regie geführt. Gruß.hans.
Reine Spekulation, aber seine Sprechereinsätze in späteren Jahren waren ja äußerst dünn gesät. Und einer der wenigen ist ausgerechnet der Trailer zu "Sein oder Nichtsein" - den ich nun wahrlich nicht als Zufall werten kann, sondern nur als bewusste Anspielung und dann ja auch eindeutig mit Gieses Zustimmung. Ich frage mich, ob er sich nicht bewusst zurück gezogen hat, weil er (im Gegensatz zu manch anderem Kollegen?) aus Gewissensgründen ehemals Verfolgten wie Alfred Balthoff (der in den 50ern ja praktisch nicht aus den Synchronateliers heraus kam) nicht in die Augen sehen konnte ...
Im Wallace-Krimi "Das Geheimnis der weißen Nonne" (1966) spricht er die Rolle des Granger-Assistenten "Inspektor Dice". Der bei Arne angegebene Jochen Blume ist falsch.
Kurze Frage. Wenn man sich einen Nachrichtensprecher der 1930er vorstellt, dann hat man ja meistens eine sehr überdeutlich sprechende, hohe, näselnde Stimme im Kopf. Hat dieses Stereotyp seinen Ursprung bei Herrn Giese, oder passt da eher ein anderer Sprecher in das Muster?